Das Platzen meiner Filterblase

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Es gibt diese großen, weltbewegenden Ereignisse im Leben, von denen man auch Jahre später immer sagen kann, wo man sich gerade aufgehalten hat und was man gerade getan hat, als man von Ihnen erfuhr. Ein freund meines Vater war erst 14, als Jimi Hendrix starb, aber bis heute kann er bis in jedes Details schildern, was er dabei empfunden hat. Mein Vater kann jede winzige Einzelheit schildern, die für ihn mit dem Fall der Berliner Mauer verbunden ist.


Für mich selbst gab es bisher zwei Dinge, die in meinem doch eher kurzen Leben diesen Status inne haben. Zum einen ist das der Tod von Lady Di. Nicht weil ich besonders klatschgeil wäre oder sie als Idol ansah, sondern weil mir an diesem Tag die Reaktion der Menschen um mich herum gezeigt hat, dass kollektive Trauer ein wahnsinnig starkes Gefühl ist und man Menschen in einem Zustand erlebt, in dem man sie vorher so noch nicht kannte. Es betraf mich nicht selbst, ich war zwar über die Umstände (die „Verfolgungsjagd“, den Unfall, die Reaktionen der Presse, die Hetzjagd auf Paparazzi etc.) irritiert/schockiert, doch weiter betraf mich das ganze nicht – emotional. Es erschütterte nicht mein Weltbild, traf mich nicht im Kern dessen, was ich als gegeben ansah und vor allem: es würde sich für mich und die Welt in der ich lebte, nichts ändern.
In dieser Art sind seither viele Tragödien, Dramen und Katastrophen geschehen, und bei nahezu allen herrschte bei mir dieses Gefühl vor: schrecklich, ja – aber ich bin froh, mich hier, in meiner angenehmen kleinen Filterblase einzuigeln, auf die Demokratie und soziale Verantwortung meines Heimatlandes zu vertrauen und mich in dem wohligen Gefühl sonnen zu können, sowas würde bei uns nicht passieren.
Bis 9/11 kam. Und ich zum ersten Mal nicht nur kollektive Trauer um mich herum spürte, sondern Ohnmacht. Unverständnis. Angst. Hilflosigkeit. Dieses Amalgam an Gefühlen, das sich zum ersten Mal auch mischte mit dem unbedingten Willen, einen Schuldigen zu benennen, koste es, was es wolle. Zum ersten Mal fühlte ich selbst, was auch andere fühlten, ich saß fassungslos, ängstlich und zitternd vor dem Fernseher, als die Türme in sich zusammenbrachen und damit zum ersten Mal mein Weltbild ankratzten, meine Filterblase aus Sicherheitsgefühl und Ignoranz für die Welt da draußen platzen ließ. Zum ersten Mal sah ich mich um und schaute genau hin, sah, was nicht gut war, aber immer noch besser als anderswo. Das hätte der Punkt sein können, an dem ich meinem Vater doch in die Politik hätte folgen können, um etwas zu bewegen, zu verändern, von oben die Demokratie zu schützen. Doch ich versuchte lieber, an der Basis mit meinem kleinen Licht zu leuchten und mich in einem kleinen Bereich zu engagieren , der zwar für das große Ganze nicht von Bedeutung ist, aber im kleinen etwas Großes bewirken kann, direkt und unmittelbar. Meine Welt war wieder in Ordnung, ich konnte mich wieder in einer neuen Filterblase einrichten und alles an mir abprallen lassen, was schrecklich ist, aber nicht in meiner Macht liegt. Die kollektive Trauer über Naturkatastrophen, Anschläge, Massaker, sie floss an mir ab, ich konnte sie verstehen, aber nicht nachempfinden. Schrecklich, ja, aber es betrifft mich nicht.


Bis gestern. Liegt es daran, dass für mich die Meinungsfreiheit eines der höchsten immateriellen Güter ist, die die Menschheit besitzt? Dass ich Intellekt in jeder Form für eine mächtige Kraft halte? Oder daran, dass dieser Anschlag in unserem Nachbarland, aus welchen Motiven er nun auch geschehen sein mag, in einer Zeit passiert, in der unser eigenes Land eine gespaltenen Persönlichkeit entwickelt, die kaum noch einer wirklich fassen kann? Ich fühle seit langer Zeit zum ersten Mal wieder wirkliche Trauer, und ich kann nicht greifen, warum dieses Ereignis in Paris, bei dem 12 Menschen starben, mich so viel mehr erschüttert, als es Madrid, London oder Utøya getan haben. Warum ich wieder dieses Gefühl habe wie damals, 2001, als ich nicht verstand, wie die Welt sich teilen konnte in diejenigen, die zu verstehen versuchten, was gerade passierte, und diejenigen, die einfach ihr normales Leben weiterführten, als sei nichts geschehen. Die einen, die die damaligen Möglichkeiten des Internets für Informationsgewinnung ausloteten, und diejenigen, die ihren neuesten Konsumrausch breittraten. Und wer sich für mich am meisten disqualifizierte, war die Schule.
Der 12. September, ein normaler Schultag, und wir in der Kollegstufe versuchten hilflos, mit irgendjemandem über unsere Gefühle zu reden. In Worte zu fassen, was durch unsere Köpfe ging, warum wir so mitgenommen waren, die Angst zu greifen, was sich nun ändern würde. Und die Lehrer? Nichts. Sie verweigerten jegliche Kommunikation. Eine Diskussion über „DasWort ist mächtiger als das Schwert“ oder die „Ringparabel“ in der Deutschstunde? Fehlanzeige.

Ein Hinweis auf die fehlende Legitimation von Gewalt im Koran im Religions- oder Ethikunterricht? Nothing. Erst, und das halte ich ihm bis heute hoch, unser Mathematiklehrer stellte seine Tasche mit den Worten hinters Pult: „Ich denke, bevor wir heute auch nur an Ableitungen denken können, haben Sie wahrscheinlich großen Redebedarf.“ Dafür bin ich ihm ewig dankbar.
Mein selbst gewähltes Pendant zu diesem Mathelehrer ist gestern und heute „mein“ Internet. Ich fühle mich vereint mit Leuten, die genauso hilflos und fassungslos sind wie ich, es zum Großteil auch besser in Worte fassen können als ich. Sicher, auch hier habe ich wieder meine Filterblase, aber in ihr ist schon lange ein Großteil von Leuten, die mir jeden Tag vor Augen halten, dass NICHT alles gut ist, dass die Welt, je mehr sie zusammenrückt, auch ihre Probleme näher zueinander bringt. Und dass wir genau hier versuchen müssen, noch mehr denn je, zu sprechen, zu kommunizieren, und ja, auch mit Humor dem zu begegnen, was man als Gedanken in den Köpfen der Menschen nicht bekämpfen kann wie eine Seuche, eine Hungersnot oder eine Flutwelle. Dem man nicht mit Waffen begegnen kann wie einem Terroristen. Sondern wo der Intellekt auf den Punkt bringt, wenn Argumentationen keine sind, und mit Humor Unsinn auf den Punkt bringt.


Viele Zitate über Humor und Satire fließen seit gestern in meine Timeline. Aber es sind nicht die alten Phrasen, die wir jetzt brauchen, die ich jetzt brauche. Ich brauche die alte Gewissheit, dass nichts unsere Demokratie erschüttern kann, dass uns nichts passieren kann. Aber dieses Gefühl kann und will sich nicht mehr einstellen, nicht von allein – nicht, wenn ich das Gefühl habe, dass ich als Bürger nichts dazu beitrage. Aber wo fängt man da an?

Autor: Kitty

Büchermachender Bücherwurm mit feministischen Tendenzen und einer dunklen Vergangenheit im Bildungswesen. Kommuniziert viel, gerne und macht das irgendwie auch beruflich.

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